Zum Steinbruch und zum Friedhof (Schwäb. Tagblatt 11.07.2018)


Geschichte Der 91-jährige Nikolaos Skaltsas aus Athen besucht Hailfingen
und Reusten, wo er in den letzten Kriegsmonaten 1944/45 Zwangsarbeit
leisten musste.
Die Schreie hat Nikolaos Skaltsas heute noch in den Ohren. Frühmorgens am 9. August 1944 hatten die
deutschen Besatzer und ihre griechischen Kollaborateure alle Jungen (ab 15) und Männer seines Athener
Stadtviertels vor der armenisch-katholischen Kirche zusammen getrieben. Skaltsas war damals 17 Jahre alt.
“Mein Freund wurde gepackt. Er flehte um sein Leben. Ich höre seine Stimme heute noch”, erzählt Skaltsas
mithilfe eines Übersetzers (der TAGBLATT-Berichterstatter versteht kein Griechisch). Es half nichts. Der Freund
wurde erschossen, so wie nach ihm noch weitere 120 Männer – vermutlich, weil sie als Aktivisten oder
Sympathisanten der Widerstandsbewegung galten.
Erst am frühen Nachmittag endete das Massaker. Skaltsas’ 15-jähriger Bruder (“der hatte nochkurze Hosen
an”) durfte irgendwann gehen. Nikolaos Skaltsas selbst wurde in ein Sammellager abtransportiert, gemeinsam
mit mehreren hundert anderen. Weitere Razzien folgten.
Ein Güterzug mit 1040 Männern
Nach etwa einer Woche wählte ein Arzt die kräftigsten Gefangenen aus. 1040 von ihnen wurden auf die lange
Reise nach Deutschland geschickt. “Wir waren 35 Männer in einem Viehwaggon, bewacht von zwei
Wehrmachtssoldaten.” Erst in Deutschland wurde die Bewachung gelockert: “Da hatten sie keine Angst mehr,
dass jemand abhauen könnte.”
Ein griechischer Historiker hat die Transportliste mit den 1040 Namen erst vor drei Jahren entdeckt. Dies gab
den Anstoß für das jüngste Forschungsprojekt des KZ-Gedenkstättenvereins Hailfingen/Tailfingen. Die beiden
Herrenberger Volker Mall und Harald Roth versuchen, das Schicksal der knapp 400 Griechen zu rekonstruieren,
die schließlich – nach einigen Umwegen – am 20. September am Nebringer Bahnhof ankamen und am
Hailfinger Flugplatz in einem Hangar (einer großen Flugzeug-Garage) einquartiert wurden – auf Stroh. So
bekamen Mall und Roth Kontakt mit Skaltsas, einem der letzten noch lebenden Insassen des Hailfinger Lagers.
Rückkehr nach 73 Jahren
In dieser Woche besucht Skaltsas die Orte, an denen er im Herbst und Winter 1944/45 als “Zivilarbeiter” (so
harmlos klang die offizielle Bezeichnung) eingesetzt wurde: Hailfingen (Ausbau des Nachtjägerflugplatzes),
Reusten (Steinbruch) und Oberjesingen (ein weiteres Flugfeld). Der 91-Jährige wird begleitet von seinem Sohn
Giorgios und von Theodoros Adamakopoulos, dem Sohn eines weiteren Hailfinger Zwangsarbeiters, der 2006
verstorben ist.
Es ist Skaltsas’ erster Besuch in Deutschland seit seiner Befreiung 1945. “Ich habe nicht erwartet, dass ich
nochmal herkomme”, sagt er mit Tränen in den Augen. “Es ist mir eine große Ehre, eingeladen worden zu sein
und mitzuerleben, dass zwischen Griechen und Deutschen eine große Freundschaft entstanden ist.” Das kann
man freilich auch anders herum sehen:Geehrt werden die Deutschen durch den Besuch des ehemaligen
Deportierten.
Skaltsas spricht ganz ohne Groll über seine Erlebnisse: über Hunger, grausame Behandlung, aber auch über
kleine Gesten der Menschlichkeit. In Reusten verarztete ihn die Frau des Steinbruch-Besitzers – nachdem ihr
Mann zuvor den jungen Griechen bei einem Wutausbruch am Kopf verletzt hatte. Und in Hailfingen erhielten
die Griechen gelegentlich “ein bisschen Brot” von Einheimischen. Wenn sich die Wachmannschaften bei
Fliegeralarm versteckten, dann besorgten sich die Zwangsarbeiter von den umgebenden Feldern Rüben, Kohl,
Äpfel und Birnen – es war ja Herbst.
Hailfingen wurde zur Hölle
Trotzdem gab es immer zu wenig; manchen Griechen quollen die Bäuche auf, “wahrscheinlich vor Hunger”. Ihre
Kleidung (meist noch die Sommersachen aus Athen) war mittlerweile völlig zerlumpt. “Langsam wurde unser
Leben zur Hölle.”
In den drei Hailfinger Monaten starben drei Griechen. An einen davon kann sich Skaltsas noch gut erinnern:
Stylianos Wassiliou. In Athen hatte er bei ihm immer Joghurt gekauft. Wassiliou ist auf dem Hailfinger Friedhof
beerdigt (wir berichteten). Skaltsas besuchte das Grab am Montagvormittag.
Anfang Dezember 1944 wurden die griechischen Zwangsarbeiter in Hailfingen durch 600 jüdische KZ-Häftlinge
aus halb Europa ersetzt. Diese wurden noch erheblich grausamer behandelt. Die Mehrheit der jüdischen
Gefangenen überlebte die Wintermonate in Hailfingen und die anschließenden Todesmärsche nicht.
Mit zwei Dutzend anderen Griechen kam Skaltsas nun nach Oberjesingen. Dort waren die Bedingungen (Essen,
Kleidung) besser. Skaltsas erinnert sich an einen freundlichen Einheimischen und dessen elfjährige Tochter:
“die Olga”. Nun hat er sie 84-jährig wieder getroffen, ebenso wie den “Herrn Kuno”, mit dem die
Zwangsarbeiter gelegentlich Fußball gespielt hatten.
Befreiung am Georgs-Tag
In den letzten Kriegswochen kam Skaltsas’ Gruppe noch nach Haigerloch. Dort sollte sie Bergwerksstollen für
die Rüstungsproduktion vorbereiten. Am 23. April 1945 (dem “Heiligen Giorgios”) wurden die Griechen von
amerikanischen Soldaten befreit. Bis dahin hatten die Angehörigen in Athen keinerlei Lebenszeichen von den
jungen Männern erhalten (und umgekehrt). Im August kehrte Skaltsas nach Hause zurück. Er ging aufs
Gymnasium und arbeitete später in verschiedenen Berufen, unter anderem als Taxi-Fahrer.
Der 91-Jährige beherrscht noch immer etliche deutsche Wörter, die er in seine Erzählung einfließen lässt:
“Aufstehen!”, “Läuse”, aber auch: “Speck”. Die Verbindung zu seinen Hailfinger Kameraden ließ Skaltsas
abreißen; nur zu einem habe er noch viele Jahre den Kontakt aufrecht erhalten.
Für die sieben Monate Zwangsarbeit und seine Entbehrungen erhielt er zwei Mal eine so genannte
Entschädigung: 5000 Dollar im Jahr 1950 und 7800 Euro im Jahr 2004.
Freitag: Denk-Pfeiler an der alten Flugzeughalle
Zehntklässler des Rottenburger Paul-Klee-Gymnasiums haben eine Skulptur mit dem Titel “Mantel des
Schweigens” geschaffen, gemeinsam mit dem Kiebinger Künstler Ralf Ehmann und dem Kunsterzieher Gregor
Schwarz. Diese Skulptur soll an die griechischen Zwangsarbeiter unddie Kriegsgefangenen (unter anderem aus
Indien und der Sowjetunion) erinnern, die am Hailfinger Flugplatz interniert waren.
Am übermorgigen Freitag, 13. Juli, um 17 Uhr wird diese Skulptur im Beisein von Nikolaos Skaltsas
öffentlichvorgestellt.
Von der Flugzeughalle sind nur noch einige Pfeiler erhalten. Sie befindet sich in einer Baumgruppe auf der
Hochfläche zwischen Reusten und Tailfingen, östlich der Autobahn.
Parkmöglichkeiten sind bei den Schweichinger Höfen (K6919 Hailfingen-Tailfingen) oder am Reustener
Sportplatz. Von dort sind es jeweils zehn bis 15 Minuten zu Fuß. Für Gehbehinderte verkehrt ein Shuttle von
den Schweichinger Höfen zur Flugzeughalle.
In Reusten mussten Nikolaos Skaltsas und seine Kameraden die abgebrochenen Steine in Transport-Loren
werfen, mit bloßen Händen. Bilder: Hahn
Nikolaos Skaltsas im KZ-Dokumentationszentrum im Tailfinger Rathaus. Im Hintergrund ist eine historische
Luftaufnahme von Hailfingen zu sehen. Das Flugfeld befand sich nördlich davon.
Theodoros Adamakopoulos (links), Nikolaos Skaltsas und sein Sohn Giorgios Skaltsas beim Denkmal (einer
Lore) und einer Infotafel am ehemaligen Reustener Steinbruch Schäfer